Was bedeutet "Eranos"? Das Wort "Eranos" bezeichnet im Altgriechischen ein Gastmahl, zu dem jeder etwas beiträgt &endash; materiell oder geistig. Der ungarische Altphilologe und Mythologe Karl Kerényi hat auf den ursprünglichen Sinn des Wortes hingewiesen, das in der griechischen Literatur erstmals in Homers Odyssee auftaucht. Laut Kerényi ging es bei einem "Eranos" &endash; anders als bei einem gemeinschaftlichen "Picknick"; immer auch um einen "geistigen Kern", den die Teilnehmer aus dem Moment heraus durch ein Trinklied, eine symbolische Gabe an die Gruppe, ein Gedicht oder eine improvisierte Rede ansprechen und entwickeln sollten.
Seit dem Jahr 1933 hat in Ascona-Moscia, auf der Schweizer Seite des Lago Maggiore, über 70 Jahre lang ein modernes ERANOS seine Wirkung entfaltet. Hier war der Ort, an dem die Idee von Olga Fröbe-Kapteyn Form annahm, einen "Freiraum des Geistes", eine "Begegnungsstätte zwischen Ost und West" zu schaffen, und wo die Beziehung zwischen Individuum, Geist und den Ausdrucksbildern der Seele immer aufs Neue durchdacht wurde.
Gastmahl und Jahrbücher
Das Gastmahl um den Runden Tisch auf der ERANOS-Terrasse, angeregt durch die "Gaben", die die Teilnehmer in Form von Vorträgen und Diskussionen darbrachten, wurde so zum lebendigen Symbol. Der im Zedernschatten stehende Gedenkstein für den "unbekannten Geist des Ortes" sowie der lichtdurchflutete Vortragssaal mit Blick auf die Berge des anderen Seeufers mögen weitere Elemente der Inspiration so vieler Denker des 20. Jahrhunderts an diesem Ort gewesen sein. Nach den Tagungen jeweils im August übergaben die Redner Olga Fröbe ihre Manuskripte im Austausch für ihre Gastfreundschaft. Dadurch ist eine Reihe von über 60 Jahrbüchern entstanden, die Zeugnis ablegen von der immensen Arbeit, die hier auf den verschiedensten Forschungsgebieten geleistet wurde.
C.G. Jung und andere wegweisende Denker
Unter dem Einfluss des Schweizer Psychologen Carl Gustav Jung (1875-1961) bewegten sich die ERANOS-Tagungen um symbolische, archetypische und mythologische Motive: wie A. Portmann und R. Ritsema 1978 hervorhoben, ver- weisen diese Ausdrucksformen auf eine dem Menschsein zugrunde liegende Substruktur, die a-historisch oder archaisch genannt werden kann, und der sich ERANOS immer zutiefst verbunden fühlte.
Neben der Prägung durch Jung, der Olga Fröbe den Horizont von individualistischer Psychologie hin zur Welt der Archetypen eröffnete, brachte die Begegnung mit dem Sinologen Richard Wilhelm (1873-1930) für Olga Fröbe eine neue Wendung: durch ihn bekam sie erstmals Zugang zu fernöstlichem Denken und die Möglichkeit zur Begegnung mit außereuropäischen Kulturen auf gleicher Augenhöhe. Schließlich vermittelte der Religions- historiker Rudolf Otto (1869-1937) der ERANOS-Gründerin einen Begriff von Religion und Mystik, in deren Mittelpunkt der Mensch steht.
Seit Ende der 30er Jahre konzentrierte sich das Programm der Tagungen auf jeweils ein Jahresthema, das von den Rednern aus unterschiedlicher Perspektive und in vielen Facetten analysiert und ausgeleuchtet wurde:
Philosophen (z.B. M. Buber), Psychologen (E. Neumann), Theologen (P. Tillich), Naturwissenschaftler (E. Schrödinger), Orientalisten (G. Tucci), Religionshistoriker (M. Eliade), Ethnologen (P. Radin), Indologen (H. Zimmer), Islamwissenschaftler (H. Corbin), Ägyptologen (E. Hornung), Kabbala-Forscher (G. Scholem), Mythologen (K. Kerényi), Rabbiner (L. Baeck) und Zen-Buddhisten (D. Suzuki) fanden in den ERANOS-Tagungen und bei den informellen Gesprächen am Runden Tisch ein einzigartiges Forum des Austauschs. Wie M. Eliade 1960 festhielt, empfanden viele, dass ihre kreative, hochspezialisierte Forschungsarbeit in dem Moment, da sie in diesem Kreis oft erstmals präsentiert und ausformuliert wurde, eine tiefere Bedeutung als Beitrag zum Wissen der Menschheit erhielt.
In den 40er Jahren stand im Mittelpunkt der Tagungen der Mensch in seiner vielfältigen Beziehung zur Welt, was sich dann zur Idee eines von ERANOS inspirierten Neuen Humanismus verdichtete. Darin würde sich das ursprüngliche Interesse an den symbolischen Ausdrucksformen der Seele, ihrer besonderen Sprache in Mythen, Märchen, Bildern, religiösen Ritualen, Träumen, Kunst, Poesie und Musik verbinden mit der Idee eines Synkretismus von Natur- und Geistes- wissenschaften und &endash; besonders in den letzten Jahren &endash; von östlichem und westlichem Denken.
Die Vision des KoordinationsRat der Relaunch Phase I (2006-2009)
ERANOS-KOORDINATIONSRAT, Zusammenarbeit von Eranos, Fetzer und Pacifica
Die Stiftung Eranos, das Fetzer Institute in Kalamazoo, Michigan/USA und das Pacifica Graduate Institute in Santa Barbara, Kalifornien/USA haben einen Rat gebildet, dem die führenden Vertreter dieser drei Organisationen angehören und der sich regelmäßig trifft. Zweck dieser Treffen ist die Koordination der jeweiligen Aktivitäten bei Eranos. Auch wenn jede Organisation unabhängig von den anderen und voll verantwortlich für ihre eigenen Veranstaltungen bleibt, gilt es doch viele Dinge zu koordinieren, um eine optimale, effektive und ausgewogene Nutzung der Örtlichkeiten und der Organisation von Eranos zu erreichen. Der Vorsitz dieses Rates wechselt zwischen den Präsidenten/Vorsitzenden der drei Organisationen; derzeit hat ihn Dr. Steven Aizenstat, Gründungspräsident des Pacifica Graduate Institute, inne.
Der folgende Text umreißt die Zukunftsvorstellung, auf die sich die drei Organisationen bei einem kürzlichen Treffen des Eranos-Koordinationsrats verständigt haben. In ihr drückt sich der Geist dieser Zusammenarbeit aus.
Die Vision
Der Eranos-Koordinationsrat setzt sich aus den Führungspersonen der gegenwärtig drei Partner-Organisationen zusammen: der Stiftung Eranos, des Fetzer Institute und des Pacifica Graduate Institute. Es geht dabei um eine Partnerschaft auf der Basis gemeinsamer Werte, wie sie am Ort und durch die Tradition von Eranos Gestalt angenommen haben: in einer einzigartigen Verbindung von intellektueller Kreativität. umfassender Vorstellungskraft und kultureller Tiefenwirkung. Unsere gemeinsame Hoffnung für Eranos im 21. Jahrhundert gilt nicht nur der Erneuerung, sondern auch der Ausweitung des Geistes von Eranos in einen globalen Horizont, um der größeren Gemeinschaft unserer Erde in dieser entscheidenden Zeit des Um- und Aufbruchs zu dienen.
Auf praktischer Ebene arbeiten die Partner zusammen bei der Nutzung der Einrichtungen in Moscia und Ascona, bei der Koordination von Veranstaltungen und Initiativen. Jeder der Partner bewahrt seine besondere Identität, die gleichwohl durch die Zusammenarbeit gestärkt werden kann. Jeder ist verantwortlich für seine eigenen Konferenzen und Inhalte, wird aber immer den Austausch und den besten Umgang mit verfügbarer Information und Ressourcen zugunsten gemeinsamer Ziele suchen.
Auf der Ebene der Vision sehen sich die Partner der reichen Tradition von Eranos verpflichtet, seinem kulturellen, psychologischen, spirituellen Erbe und seinen prägenden Persönlichkeiten. Zugleich richtet sich der Blick auf die heraufkommende Welt des neuen Millenniums. Das Pacifica Graduate Institute steht dabei für das von ihm seit langem verfolgte Anliegen einer Psychologie und Erziehung, die die ganze Person mit ihrer jeweiligen emotionalen, spirituellen, körperlichen und intellektuellen Dimension umfasst und die Unterschiedlichkeit der Personen achtet. Das Pacifica Graduate Institute verbindet mit Eranos die Hoffnung auf einen Ort, an dem die Kultur des Zuhörens, der tiefgehenden Gespräche, der Imagination gepflegt und in den Dienst einer wiederbeseelten Welt, der anima mundi, gestellt wird. Das Fetzer Institute trägt bei mit seinem Engagement für einen weltweiten Bewusstseinswandel, weg von der aktuellen Zeitströmung der Angst und Gewalt, hin zu Liebe und Vergebung; ein Erwachen, das in den psychologischen und spirituellen Einsichten des späten 19. und 20. Jahrhunderts wurzelt und zu dem Eranos selbst in hervorragender Weise beigetragen hat.
Alle Partner sehen sich im Einsatz für eine weniger oberflächliche Welt. Sie wollen Pioniere des Denkens zusammenführen, die einer ganzheitlichen Sichtweise, einem kulturellen Bewusstseinswandel sowie der Integration von geistigem und spirituellem Innenleben und äußerer vita activa Vorschub leisten wollen. So sollen die bei Eranos eingeladenen Teilnehmer wie seit jeher den Blick über die Grenzen ihrer eigenen akademischen Spezialgebiete richten, ohne dabei den kritischen Ansatz aufzugeben. Wie seine einzelnen Partnerorganisationen ist auch Eranos stets bestrebt, jene "fruchtbare Mondsichel" zu nähren, die sich durch die Überlappung von Mainstream und alternativen, kulturell-intellektuellen Gruppierungen bildet &endash; in beidem zuhause und doch über beides hinausreichend.
Mit seiner Lage in der Schweiz, im Herzen Europas, kann Eranos eine Begegnungsstätte sein zwischen Ost und West, Nord und Süd, Individuum und Kollektiv, Intellekt und Seele. Seiner eigentlichen Bestimmung nach sollte Eranos eine sprudelnde Quelle der Kultur, ein Brunnen tiefer und weiter Schau sein, wo die Schönheit der Natur und die Gegenwart alter Weisheit all jene inspiriert, die hierher kommen und von hier aus mit erfrischtem Geist und vertiefter Einsicht in ihre eigene Welt zurückkehren.
AM FESTMAHL VON ERANOS (Rossana Dedola , 2006)
In dieser Rede die an der ersten Eranos Tagung der Relaunch phase gehalten wurde rekapituliert Rossana Dedola mit bezaubernden Farben die verschiedene Aspekte, Impulse und Kontexte die den "Eranos Geist" allmählich gestaltet haben.
Der Ort an dem wir uns heute befinden, ist der Monte Verità, der Berg der Wahrheit. Dieser Ort und seine Entdecker und Bewohner haben eine besondere Geschichte erlebt. Aber nicht nur der Monte Verità, sondern auch die Eranos Tagungen, die in Ascona in der Casa Gabriella stattfanden, haben eine wichtige Geschichte. Wenn ich an die verschiedenen Ereignisse, die hier geschehen sind, denke, tauchen in mir viele Fragen auf: Was hat die Protagonisten dieser spannenden Geschichte hierher gezogen, was hat sie zu der Entdeckung dieses Ortes gebracht, warum haben sie einen Berg so getauft, Monte Verità?
Am Anfang des letzen Jahrhunderts hat Ascona wie ein Magnet Menschen angezogen, welche die Gesellschaft, in der sie lebten, nicht mehr akzeptieren und ertragen konnten. In Ascona fanden sie einen Platz, an dem sie sich selbst wieder finden konnten. Hier suchten sie eine neue Verbindung mit den anderen Menschen, mit der Natur und mit dem Kosmos. Monte Verità ist als Ort der Flucht geboren worden, als Ort des Exils.
Von einem geologischen Standpunkt aus betrachtet, hat dieser Ort tatsächlich einen besonderen "Magnetismus", auf den der Körper reagiert. Eine wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomen hat man bis jetzt allerdings nicht gefunden. Es sind nicht nur die Schönheiten des Ortes, die fruchtbare Erde, die Wärme der Sonne, die subtropische Vegetation mit ihren wunderschönen Blumen, die den Humor und die Gesundheit beeinflussen und eine neue, offenere Beziehung mit sich selbst und der Welt ermöglichen.
Genau wie der geologische Magnetismus nicht zu beweisen ist, sind die Fragen, die ich vorher gestellt habe, nicht so einfach zu beantworten. Ein rein historischer Blick vermag das Phänomen nicht ausreichend zu erklären. Und noch weniger kann uns diese Perspektive helfen, wenn wir an Eranos mit seinem eigenen Magnetismus denken. Mit der Frage, welche historischen Bedingungen zu Eranos geführt haben, dringen wir nicht ins Zentrum des Problems vor, im Gegenteil. Die Frage ist nicht, welche kulturhistorischen Ereignisse Eranos geboren haben, sondern welche Kultur Eranos hervorgebracht hat, eine Kultur, die bis heute grosse Bedeutung hat.
Doch zuerst möchte ich einige Worte über den Monte Verità sagen, über die Lebensreform, die seine autarken Einwohner realisieren wollten. Sie suchten eine Lebensreform, die ihr Leben grundsätzlich verändern sollte, weil sie es nicht mehr als menschlich empfanden. Für die Migranten, die nach Ascona gekommen waren, hatte das Leben völlig seinen Sinn verloren.
Es war die Epoche des Imperialismus. Die Ablehnung und die Kritik der Menschen, die nach Ascona flüchteten, richtete sich gegen die kriegshetzerische europäische Zivilisation, der sie eine pazifistische Gemeinde entgegensetzen wollten. Statt einem anonymen Leben in den großen industriellen Städten wollten sie eine Rückkehr zur Natur, eine Verbindung mit dem Land suchen. Und zwar eine sehr tiefe Verbindung, um mit der Seele des Ortes in Kontakt zu kommen. Ein Kontakt, den die kapitalistische Industrialisierung unterbrochen hatte, weil sie als Ideal nur die Warenproduktion hatte, den Markt als Ziel des Lebens. Unter diesen Bedingungen war die individuelle Entwicklung unmöglich, und auch die Emanzipation nicht.
Die zukünftigen Bewohner auf Monte Verità spürten in dieser Situation eine tiefe innere Leere, vor der sie flüchten wollten, um zum Ursprung zurückzukehren, um einen neuen Lebensstil zu finden. Deshalb begannen sie in einer autarken Art zu leben, in welcher nur das Wesentliche Platz fand.
Zuerst kamen die zu Flucht und Exil gezwungen Anarchisten nach Ascona, um sich dort anzusiedeln. Nicht nur der russische Anarchist Michael Bakunin, sondern auch die deutschen Erich Mühsam und Raphael Friedeberg kamen hierher. Etwas später folgten die eigentlichen Protagonisten der Erfahrung des Monte Verità: Henry Oedenkoven und Ida Hofmann, Jenni, Ida's Schwester, Karl Gräser und sein Bruder Gustav, Gusto genannt.
Gerade im Jahr 1900 begann diese Gruppe von Unzufriedenen einen idealen Platz zu suchen, wo sie sich ansiedeln konnten, und gingen ins Tessin. Auf dreihundertfünfzig Metern über Meer, am Lago Maggiore, in Malesca, mit Blick auf die Brissago Inseln und das Maggiatal, fanden sie den Ort, den sie suchten. Ohne Strasse und ohne Elektrizität. Sie kauften die ersten Hektare mit dem Geld von Henri Oedenkoven. Sie suchten nach einem Namen für diesen Ort und waren alle sofort einverstanden: Monte Verità - Berg der Wahrheit - sollte er heissen.
Robert Landmann, der Biograf von Monte Verità, schreibt: "Die Luft in diesem Ort ist speziell. Außer den üblichen Grundstoffen enthält sie, neben einigen übersinnlichen Elementen, gewiss eine mächtige Dosis dolce far niente".
Sie begannen einfache Häuschen zu bauen, die sogenannte Luft-Licht-Häuser, mit einem Hof, in welchem sie sonnenbaden konnten. Zudem stellten sie einfache Möbel her. Sie bauten und diskutierten also über die Rückkehr zur Natur von Tolstoi, sie bearbeiteten die Erde selbst, um sich mit gesunden Nahrungsmitteln zu ernähren. Sie kochten selbst, natürlich nur vegetarisch, und lebten meist im Freien. Draussen tanzten sie, draussen badeten sie, frei, zufrieden und nackt. So lebten sie im Lichte der Wahrheit auf dem Berg der Utopie.
Was war also der Monte Verità? Ein naturalistisches Sanatorium, wie sie das nannten? Eine kommunistische Kolonie, "ethisch-sozial-vegetarisch"? Oder eine Bande der "Balabiott"? Das Wort aus dem Tessiner Dialekt wurde von den perplexen Beobachtern benutzt. Sie konnten nicht verstehen, dass dort das Ideal des gesunden und egalitären Lebens gelebt wurde.
Für die Teilnehmer an Eranos Tagungen dauerte der Aufenthalt im Tessin nur zehn Tage. Trotzdem fühlten sie den Einfluss dieses Ortes so stark, dass sie seit den Anfängen im Jahr 1933 jedes Jahr im August zurückkamen und bis zum Krieg auf dem Monte Verità wohnten. Aber auch während des Krieges fanden die Tagungen weiter statt.
Die Begründerin von Eranos war Frau Olga Fröbe Kapteyn. Ohne dass sie es wußte, wurde sie "die Große Mutter" genannt. Sie wurde als Tochter holländischer Eltern in London geboren. Mit vierzig Jahren verlor sie ihren Mann. Zu dieser Zeit kaufte ihr Vater ein großes Stück Land für sie mit einem Haus darauf: Casa Gabriella, am Ufer des Lago Maggiore, wo sie Künstler und Philosophen empfing. Sie stellte sich vor, dass dieser Ort mit dem üppigen Garten, mit Schatten großer Libanonzedren, besucht von verschiedenen Vögeln, Insekten und anderen Geschöpfen eine ideale Begegnungsstätte werden könnte. Sie baute im Park einen Konferenzsaal und ein Gästehaus, "Casa Shanti", in Sanscrit "Haus des Friedens", ohne eigentlich zu wissen, wer dorthin hätte kommen sollen.
"Eranos", ein griechisches Wort, das "Festmahl" bedeutet, hatte ihr der Religionshistoriker Rudolf Otto suggeriert. Otto hatte schon 1917 Das Heilige veröffentlicht, ein Buch das ihn weltbekannt machte. Mircea Eliade erklärt, dass die Ursache des Erfolges von Otto's Buch die Originalität der Perspektive war: Statt die Ideen von Gott zu erforschen, analysierte Otto "das Wissen der religiösen Erfahrung". Er hatte also verstanden was für den Gläubigen die Erfahrung des "lebendigen Gottes" bedeutet. Nicht der Gott der Philosophen, keine abstrakte Idee, keine moralische Allegorie. In der Erfahrung von Otto war Gott eine furchtbare Macht, die sich im "göttlichen Zorn" offenbarte. Er hatte die Leser mit dem Mysterium fascinans des Heiligen konfrontiert, mit seiner Numinosität. An der ersten Eranos Tagung war Rudolf Otto aber zu krank, um teilzunehmen. Nach Ascona ging dafür der andere Berater von Frau Fröbe, der damals 48jährige Carl Gustav Jung.
Das Thema der ersten Tagung oder besser gesagt des ersten Festmahls, war die Begegnung von Ost und West. Es war das Jahr der Machtergreifung Adolf Hitlers. Mit Eranos empfing Ascona wieder politische Flüchtlinge, die aus Nazi Deutschland weggejagt worden waren. Einige davon nahmen an der Tagung teil, andere waren Zuhörer.
Die vielen Informationen über die verschiedenen Begegnungen, die ich im Lauf meines Vortrages erwähnen werde, habe ich in dem sehr guten Buch von Hans Thomas Hakl, Der verborgene Geist von Eranos. Unbekannte Begegnungen von Wissenschafte und Esoterik, gefunden.
Heinrich Zimmer war einer von diesen, die später Deutschland verlassen mussten. Jung hatte ihn anfangs der dreißiger Jahre kennengelernt. Er hatte schon das faszinierende Buch "Kunstform und Yoga" von Zimmer gelesen. Er begegnete ihm in Berlin, wie er in Erinnerungen, Träume, Gedanken schreibt: "Wir verlebten zusammen einige schöne Tage, die von inhaltsreichen und für mich ungemein anregenden Gesprächen erfüllt waren. Wir sprachen hauptsächlich von indischer Mythologie".
Heinrich Zimmer hatte auch ein Buch gelesen, das C. G. Jung mit Richard Wilhelm herausgegeben hatte, Das Geheimnis der Goldenen Blüte. Ganz anderes war aber seine Reaktion: "Als Heinrich Zimmer Das Geheimnis der Goldenen Blüte in die Hand bekam und darin blätterte, geriet er &endash; so erzählte er mir &endash; in Wut, und zwar wegen meines psychologischen Kommentars. Er schmetterte das Buch an die Wand". Als der Wutausbruch vorbei war, nahm er das Buch auf und begann zu lesen; "Was ich damals erlebte, war die plötzliche Einsicht, dass meine Sanskrit-Texte nicht nur grammatikalische und syntaktische Schwierigkeiten darboten, sondern daneben auch noch einen Sinn hatten".
C. G. Jung war nach Berlin gefahren, um dort ein Seminar zu halten. Barbara Hannah, die an dieser Reise teil nahm, erzählt ihre eigenen Eindrücke und erinnert sich ganz genau, wie damals die Panik, welche die Menschen in Deutschland ergriffen hatte, fassbar wurde. Nachher hat Jung Zimmer nach Zürich zu einem Seminar über Kundalini Yoga eingeladen, das im Psychologischen Club stattfand.
Es war ausgerechnet auch Zimmer, der den ersten Vortrag an der Eranos Tagung hielt. Das Thema der Tagung war Yoga und Meditation im Osten und Westen, und der Titel von Zimmer's Vortrag lautete Zur Bedeutung des indischen Tantra-Yoga.
Zimmer war sicher von der Atmosphäre von Eranos begeistert. Er nahm noch mehrmals teil, er zeigte aber auch eine gewisse Ambivalenz. Zum Beispiel riet er einem Freund der Universität Oxford vom Besuch in Ascona ab, und nicht nur wegen nicht ganz optimalen klimatischen Bedingungen: "Fahren Sie nicht nach Ascona, der Föhn bläst die ganze Zeit, und alles ist voll von Frauen mit Übertragungen".
Er hat aber nicht nur die Frauen in Übertragungssituationen beobachtet, sondern auch den Verursacher dieses Zustandes, nämlich C. G. Jung. "Dass dieses einzigartige, gewaltige Exemplar der Menschengattung in mein Leben trat, (sehe ich) als eine der größten Geschenke des Lebens ". Am Tisch sass er gegenüber von Jung, so konnte er ganz nahe das gewaltige und bedrohliche Lachen erleben. Auch Jung war sich der bedeutenden Persönlichkeit, die ihm gegenüber saß, bewusst: "Ich fand in ihm einen genialischen Menschen, von lebhaftestem Temperament."
Zimmer starb früh, wie ein anderer Freund von Jung, nämlich der Autor des Buches, das Zimmer an die Wand geschmissen hatte: Richard Wilhelm. Das Schicksal von Zimmer, wie das von anderen Teilnehmern an den Eranos Tagungen wurde durch die Ereignisse seiner Zeit unheilvoll bestimmt: 1938 wurde ihm die Lehrbefugnis an der Universität entzogen, weil seine Frau Christiane, die Tochter von Hugo von Hofmannstal, Jüdin war. Er musste nach Amerika auswandern, wo er 1943 starb.
Aber kommen wir zurück zur Eranos Tagung. Der Vortrag von Jung Empirie des Indviduationsprozesess untersuchte verschiedene Mandala Bilder, die von einer seiner Patientinnen gemalt worden waren. An dieser Tagung sprachen auch Caroline Rhys-Davids, Präsidentin der Pali Test Society, und Erwin Rousselle über Seelische Führung im lebenden Taoismus. Nach Wilhelms Tod wurde Rousselle Direktor des China-Instituts von Frankfurt.
Auch der Religionshistoriker Friedrich Heiler sprach in Eranos. Da ein Thema Kontemplation war, bat ihn Frau Fröbe, diesbezügliche Exerzitien zu zeigen. Walter Otto schrieb dazu: "Die Konferenz von Ascona soll glänzend gewesen sein. Heiler hat dort Exerzitien gehalten und seine Messe durchgeführt, ob in Bischofornate, weiß ich nicht, hoffe es aber. Rousselle hat als Ministrant dabei assistiert". Auch Heiler war ein Kenner des Hinduismus und Buddhismus, Olga Fröbe nannte ihn "Professor Krishna".
Der dritte Sprecher, der sich auch der christlichen Mystik gegenüberstellte, war der Italiener Ernesto Buonaiuti, ein Freund von Otto und Heiler, der seines Modernismus wegen vom Vatikan exkommuniziert worden war. In Wirklichkeit war sein Modernismus eine Rückkehr zu den Wurzeln des Christentums, jene von Gioachino da Fiore und Franziskus von Assisi. Bei ihnen zeigte sich die Religion eher in Kontemplation und Freude, als in Disziplin und Lehre. Buonaiuti war ein großer Kenner von Mystik und alter Gnosis. Wegen des Bruches mit dem Vatikan zwang ihn das Kulturministerium der faschistischen italienischen Regierung den Lehrstuhl an der Universität Rom aufzugeben. Aber er selbst kehrte von sich aus der Universität den Rücken, weil er nicht einen Treueid auf den Faschismus schwören wollte. Wie schon erwähnt, war dies 1933.
Bei den Rednern, an der ersten sowie an den folgenden Tagungen, war die Anzahl der Gegner des Faschismus und Nationalsozialismus hoch. Auch wenn Eranos nicht als alternativer Pol gegen den Nationalsozialismus betrachtet werden kann, kann man doch mit dem Religionsphilosoph Alfons Rosenberg, der auch im Exil in der Schweiz war, einverstanden sein. Er sagt "gewollt oder nicht gewollt war Eranos eine Antwort auf das Verderben des Geistes".
An der zweiten Tagung 1934 über Ostwestliche Symbolik und Seelenführung nahmen die gleichen Protagonisten teil: Jung, Rousselle, Zimmer, Rhys-Davids, Heiler, Heyer und Buonaiuti. Diesen Theologen, Psychologen und Religions-Historikern schloss sich der Jude Martin Buber an, der ein Chassidismus Experte war. "Religions-Anarchist" hat ihn Scholem genannt. Weil er Jude war, musste auch er die Universität in Deutschland verlassen.
Ein neuer Teilnehmer war auch der deutsche Jakob Wilhelm Hauer. Er war Indologie Professor in Tübingen. 1932 hatte er das Buch Yoga als Heilweg geschrieben und Jung gewidmet. Hauer wurde eingeladen, ein Seminar über Kundalini-Yoga im Psychologischen Club von Zürich zu halten. Er wurde immer Nazi-freundlicher und als er 1938 im Psychologischen Club über die Swastica sprach, wurde er sehr stark kritisiert. Bei dieser Gelegenheit schrieb er in sein Tagebuch: "Ich bin zu deutsch für diese Leute". Als sich in Ascona die Nachricht verbreitet hatte, dass Hauer zum Monte Verità kommen werde, waren nicht alle damit einverstanden. Es wurde sogar ein Plan gemacht, in den auch Max Ernst involviert war, dass man Hauer bei seiner Ankunft mit Teer und Federn überschütten wollte.
Über das Thema C. G. Jung und Nazismus gab es schon viele Diskussionen, so dass ich darauf nicht auch eingehen will; doch die oben erwähnten Namen zeigen, dass diese Anklage nicht unbedingt der Wahrheit entspricht.
Auch die Nazis wollten sich über Eranos informieren; nach einer Untersuchung verbot das Deutsche Kulturministerium Deutschen die Teilnahme, wie Olga Fröbe in einem Brief an Jung (29.7.1936) schrieb. Frau Fröbe erklärte auch der amerikanischen Gesandtschaft in Bern, dass die Ursache des Verbotes, die Anwesenheit Martin Bubers in Eranos war. Einige Jahre später stellte das Deutsche Ministerium fest, dass in Eranos viele Juden anwesend waren und die ganze Organisation schien ihnen "mysteriös".
An der zweiten Tagung hielt auch die Psychotherapeutin und Astrologin Sigrid Strauss-Klöbe einen Vortrag und gab als erste eine psychologischen Deutung der astrologischen Symbole.
Nur ganz wenige Frauen hielten einen Vortrag an den Tagungen, und ein Konflikt zwischen Olga Fröbe und der Archäologin V.C.C. Collum verursachte 1938 sogar den absoluten Ausschluss der Frauen als Sprecherinnen. Olga Fröbe war auch nicht ganz einverstanden, dass die Redner von der eigenen Frau begleitet wurden.
Antoine Faivre erzählt in seinem Tagebuch eine Anekdote über Frau Scholem: Sie sei in ein Gespräch mit Vortragenden vertieft gewesen, als Frau Fröbe die Unterredung abrupt beendete, indem sie von Frau Scholem verlangte, sie solle den Raum verlassen, denn "die Frauen haben nicht mit den Herren Professoren zu diskutieren". In Bezug auf diese Haltung den Frauen gegenüber, deutete Jung 1960 in einem Brief einen Traum von Frau Fröbe: "Bei Ihnen handelt es sich um einen Vaterkomplex mit einer Überschätzung des Männlichen, weshalb Sie durch eine Frau in einen Frauenorden eingeweiht werden sollten. Das wäre auch für die Zukunft von Eranos das Günstigste. Einem Manne fehlt das hierzu erforderliche Mütterliche".
C. G. Jung wollte nicht als Patron von Eranos gesehen werden, sondern nur als ein Mitarbeiter. Mircea Eliade selbst hatte diese auch bemerkt: "Jung war der Spiritus rector von Eranos, doch man kann nicht sagen, dass die Vortragenden ausschließlich Jungianer gewesen waren".
Die Titel der Tagungen, die einzelnen Referate und die Präsenz von so verschiedenen Persönlichkeiten zeigten schon, dass Eranos sofort eine wichtige Begegnungsstätte geworden war. Ort der Begegnung zwischen Orient und Abendland, zwischen Mythologie, Psychologie und den verschiedenen Religionen, Buddhismus, Taoismus, Hinduismus, Christentum, Katholizismus und Protestantismus, Judentum und bald auch dem Islam mit seinen verschiedenen Richtungen.
Warum zum Orient hinschauen um eine neue Orientierung zu finden, um zum Ursprung zu kommen? Man will sich neu orientieren, um einen besseren Weg zu finden, wenn die Werte, an die man geglaubt hat, in Frage gestellt werden. Hier zeigt Eranos auch seine Verbindungen mit der vorzeitigen Erfahrungen auf dem Monte Verità.: Bei Eranos wurde zum ersten Mal die Konfrontation mit den anderen Kulturen, den anderen Religionen und auch Mythologien wesentlich; das Bedürfnis sie zu durchdringen, zu erfassen, ein tiefgreifendes Verständnis zu entwickeln war sehr stark. Man wollte Unterschiede erkennen aber auch Verbindungen wahrnehmen. Diese tiefe Konfrontation ist heute extrem aktuell geworden, wenn nicht sogar dringend notwendig, wie die letzen schrecklichen Bilder aus dem Irak zeigen.
Zu einer Zeit, in der das individuelle Leben so bedroht war, in der Unterschiede zwischen Mensch, Kultur und Religion zum Tode führen konnten, in dieser Zeit in der die totalitären Regimes propagiert haben, dass nur eine Rasse rein sei und die anderen ein unwertes Leben haben, haben sich die Referenten von Eranos in einem Kreis zusammengefunden, in dem alle gleich waren.
Die Teilnehmer haben in diesen Jahren im Hotel auf dem Monte Verità gewohnt, das im Besitz des Barons Eduard von Heydt war. Er hatte die Redner als seine persönlichen Gäste betrachtet, so mussten sie nichts bezahlen. Auch Jung wohnte dort.
In den Sälen des Hotels waren verschiedene Skulpturen und Gegenstände der Sammlung orientalischer Kunst des Barons ausgestellt. Diese wurden später zur Sammlung des Rietberg Museums nach Zürich gebracht. Wer diese Sammlung kennt, kann sich gut vorstellen, wie anregend es gewesen sein könnte, in der Nähe dieser wunderschönen Figuren über die hinduistischen Gottheiten zu sprechen oder ihren Geschichten zu lauschen.
Aber wir dürfen nicht vergessen, dass das "Zelt der Begegnung" von Eranos genau in derselben Zeit aufgeschlagen wurde, in der Gandhi den gewaltlosen Widerstand proklamiert und den Salz-Marsch organisierte hatte: Er begann Richtung Meer zu laufen, um dort Salz zu sammeln. Also parallel zur erfolgreichen Bewegung, die Indien zur Freiheit verholfen hatte und Indien zur grössten Demokratie der Welt machte, diskutierten in Eranos die Teilnehmer über die Jahrtausende alten Lehren des Hinduismus, des Buddhismus, des Yogas in ihren unterschiedlichen Formen und Richtungen. Eranos war zu dieser Zeit in Europa, wie Jung sagte, die "einzige europäische Plattform, wo von verschiedenen Nationalitäten Fragen diskutiert wurden, welche die Menschheit als Ganzes betreffen."
1938 Jahr ging Jung für eine dreimonatige Reise nach Indien; dort bekam er drei Doktoratsdiplome: in Allabad, Benares und Kalkutta, "Das erste repräsentiert den Islam, das zweite den Hinduismus, und das dritte die Britisch-Indische Medizin und Naturwissenschaft." Es ist interessant diese Reise zu erwähnen, weil Jung zum ersten Mal Indien bereiste, ein Land, dem er schon so viele Gedanken gewidmet hatte.
Im Tempel von Konarak in Orissa erlebte Jung eine lustige Geschichte. Sein Begleiter sagte plötzlich zu ihm: "Sehen Sie diese Steine? Wissen Sie, was sie bedeuten? Ich will Ihnen ein großes Geheimnis verraten!" Ich war erstaunt, denn ich dachte, dass die phallische Natur dieser Monumente jedem Kind bekannt sei. Er aber flüsterte mir mit größtem Ernst ins Ohr. "These stones are man's private parts". Ich habe erwartet, er würde mir sagen, dass sie den großen Gott Shiva bedeuten. Ich sah ihn entgeistert an, er aber nickte gewichtig, wie wenn er sagen wollte: "Ja, so ist es. Das hättest du in deiner europäischen Ignoranz nicht gedacht!" Als ich Zimmer diese Geschichte erzählte, rief er entzückt aus: "Endlich höre ich einmal etwas Wirkliches von Indien".
In Kalkutta wurde Jung schwer krank und musste zehn Tage im englischen Spital verbringen. Auf dieser Rettungsinsel konnte er sich auch vom "Meer" der Eindrücke, die Indien in ihm hinterlassen hatten, erholen. Dort hatte er den folgenden Traum: Er träumte, dass er auf einer Insel in Süden von England war, im Hof eines mittelalterlichen Schlosses. Dort musste man den Gral zelebrieren. Jung selbst kommentiert seinen Traum: "Ich wurde aus der Welt Indiens herausgenommen und daran erinnert, dass Indien nicht meine Aufgabe war, sondern nur ein Stück des Weges - wenn auch ein bedeutendes &endash; der mich meinem Ziel annähern sollte. Es war, als ob der Traum mich fragte: "Was tust du in Indien? Suche lieber für deinesgleichen das heilende Gefäß, den salvator mundi, dessen ihr dringend bedürft. Ihr seid ja im Begriff, alles zu ruinieren, was Jahrhunderte aufgebaut haben". So hatte ihn die Begegnung mit dem Orient zu einer neuen Konfrontation mit Europa gebracht, genaugenommen mit der keltischen Mythologie. Mehr als in anderen Mythologien, sind in der keltischen Mythologie Natur, Gottheiten und Menschen gleichwertig: es gibt keine Pyramide, keine Hierarchie, sondern ein Kreis, der alle Wesen umfaßt. Durch diese nordische Mythologie entsteht in Europa die erste Idee von Demokratie. Alle Helden sitzen um einen Tisch, der bekannte runde Tisch.
Abschließend möchte ich ein Zitat von Adolf Portmann lesen, das den Sinn und das Ziel von Eranos erklärt: "Dieses umfassende Bild vom Humanen zu formen, das ist aber die Aufgabe, die uns hier zu gemeinsamer Arbeit im "Eranos" zusammenführt. Weite, Tiefe und Gestaltenreichtum unserer geistigen Welt zu erfahren, den Abstieg in die Gründe des wenig oder kaum Bewussten zu wagen, die großen symbolischen Formen zu ergründen, mit denen das verborgenste Menschliche das Geheimnis des Lebens zu bewältigen sucht, - das ist ja das ernste Streben unseres Zusammenseins". Mit ihm kommen wir wieder zum Garten von Eranos zurück, zu seinen Pflanzen, Blumen und Insekten. Ihre Unterschiede lassen, wie Portmann sagt, "ein völlig verschiedenes Zeitalter der Erdgeschichte anbrechen". Im Leben der Libellen, die Raubtiere sind - erinnert uns Portmann - spielen die Blumen keine Rolle, im Gegensatz zu anderen Insekten, die von Blumen angezogen werden. "So zeugen ja auch die vielen Nadelhölzer unseres Gartens mit all den Varianten von bronzenem, dunklem und bläulichem Grün von einer ganz anderen Erdzeit als die Laubbäume, die Ulmen, die Kastanien, der Lorbeer.".
Er erinnert uns daran, wie wichtig es ist, die unzähligen Formen des Lebens wahr zu nehmen. Die Formen, die von der Natur kommen und diejenigen, die von der Menschheit erschaffen werden. Die Verschiedenheit der Kulturen, der Religionen, der Mythen, die seit jeher die Menschheit in ihrer Entwicklung begleitet. Er bemerkt noch, wie einseitig die Wissenschaft geworden ist, da von Milliarden von Formen nur die kleine Taufliege Drosophila in wenigen Jahrzehnten zur best bekannten aller Tierformen geworden ist.
Und, wenn Sie mir erlauben, möchte ich nun im Geist von Monte Verità und Eranos einen Sprung in die heutige Zeit tun. Heute können wir direkt sehen, wie gefährlich es ist, wenn von unzähligen Getreidearten, die auf der Welt kultiviert wurden, nur noch ganz wenige erhalten bleiben, die nicht genetisch manipuliert sind. Um nicht von der perversen Politik der Multinationalen Konzerne zu sprechen, die mit dem Patentieren einzelner Getreidesorten den Bauern die Getreidearten rauben, die sie seit Jahrhunderten angepflanzt haben.
Abschliessend möchte ich mich auch zum Orient wenden und an die Worte von einem Mann aus Indien erinnern. Befragt über das entscheidenste Ereignis des letzten Jahrhunderts, sagt der Ökonomie Nobelpreisträger Amartya Sen, es sei der Aufstieg der Demokratie: "Ein Land soll nicht bereit zur Demokratie sein, sondern soll durch die Demokratie demokratisch werden."
Mit diesen Worten von Amartya Sen möchte ich mein Referat beenden und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Rossana DEDOLA, 2006, © 2O06, by Rossana Dedola, Schachen 34, CH-5000 Aarau